Behavioral Finance
Definition: Was ist die Behavioral Finance?
Behavioral Finance ist ein finanzwissenschaftlicher Ansatz, der traditionelle wirtschaftswissenschaftliche Untersuchungsmethoden mit Methoden der Psychologie verbindet. Behavioral Finance könnte man – wenig anschaulich – mit »Verhaltensökonomie « übersetzten. Die Disziplin entstand Anfang der achtziger Jahre und hat sich zu einer regelrechten Modeerscheinung in der Betriebswirtschaftslehre entwickelt.
Behavioral Finance unterscheidet sich von anderen Fachrichtungen und methodischen Ansätzen in der Ökonomie dahingehend, dass sie nicht grundsätzlich von rationalen, also »nutzenmaximierenden« Wirtschaftsakteuren ausgeht.
Was das Vermögensanlagegeschäft angeht, liefert Behavioral Finance einige äußerst interessante Einsichten, die neue, zusätzliche Argumente für Indexanlagen liefern. In kurzer Form könnte man die Erkenntnisse der Behavioral Finance in Bezug auf das Vermögensanlagegeschäft wie folgt beschreiben: Aufgrund einer ganzen Reihe irrationaler, größtenteils unbewusster Verhaltensweisen der Anleger, denen selbst professionelle Finanzinvestoren wie Fondsmanager, Broker, Aktienhändler und Finanzprofessoren zum Opfer fallen, ist es vollständig naiv anzunehmen, als Privatanleger könne man den Markt schlagen. »Vollständig naiv« deshalb, weil die Finanzwissenschaft bereits vor Entstehen der Behavioral Finance viele andere Gründe identifiziert hat, die eine langfristige Überrendite (Index-Outperformance) einzelner Investoren unwahrscheinlich machen.
Behavioral Finance bestätigt mithin aus einem neuen Blickwinkel, was die Finanzwissenschaft schon seit den fünfziger Jahren immer wieder herausgefunden hat: Die Chancen, den Markt langfristig nach Kosten und Risiko zu schlagen, sind deprimierend gering, und die Gefahr, langfristig unter dem Marktergebnis zu landen, ist bei unausgewogenen, nicht diversifizierten Investments deprimierend hoch.
Behavioral Finance: Typische Verhaltensmuster
Im Folgenden werden die wichtigsten, von Ökonomen in wissenschaftlich seriösen Experimenten nachgewiesenen Verhaltensmuster von Anlegern dargestellt. Die Gültigkeit dieser Phänomene, die wir hier stark verkürzt und in einer Auswahl darstellen, ist in der Wirtschaftswissenschaft längst unbestritten.
1. Systematische Selbstüberschätzung
Die systematische Selbsüberschätzung, auch als overconfidence bias bezeichnet, beschreibt das Phänomen, dass Anleger ihr Anlage-Know-how konsequent zu hoch einschätzen. Zum Beispiel geben rund 85% aller befragten Privatanleger an, sie seien »überdurchschnittliche« Investoren – eine Zahl, die schon allein aus mathematischen Gründen nicht stimmen kann. Eine andere Ausprägung des Overconfidence Bias besteht darin, dass die Bandbreite möglicher künftiger Ereignisse (z.B. die möglichen Kurse einer bestimmten Aktie am Jahresende) systematisch unterschätzt wird. Auch die Profitabilität des eigenen Investmenterfolges in der jüngeren Vergangenheit wurde in einer Untersuchung um mehr als 110% überschätzt, und – wen überrascht es? – der Overconfidence Bias ist bei Männern höher als bei Frauen.
2. Verzerrter Rückblick
Sobald ein Ereignis abgeschlossen ist (z.B. ein bestimmter Kursanstieg eingetreten ist), überschätzen Anleger systematisch das Ausmaß, in dem sie selbst dieses Ereignis hätten vorhersagen können. Auf Befragung deklarieren sie bestimmte Argumente als ihnen »schon vorher bekannt«, die sie objektiv erst nach Eintritt des Ereignisses kennen gelernt haben.
3. Verlustaversion
Anleger bewerten Gewinne und Verluste identischer Größenordnung unterschiedlich, ebenso die Wahrscheinlichkeiten identischer Gewinne und Verluste. Verluste werden gefühlsmäßig als gravierender eingestuft als Gewinne in gleicher Höhe. Folglich lässt sich nachweisen, dass verkaufte Aktien nach dem Verkauf höhere Renditen als die gekauften erzielen – unabhängig davon, ob das Depot von einem Profi oder einem Privatanleger gemanagt wurde. Anleger scheinen einem unterbewussten Zwang zu unterliegen, Verlustrealisierung (das Eingeständnis einer »Niederlage«) zu vermeiden.
4. Neigung zur Übergewichtung der Vergangenheit
Objektiv identische bzw. gleich bedeutsame Ereignisse werden in ihrer Wichtigkeit unterschiedlich gewertet, je nachdem, wie lange sie zurückliegen.
Anders formuliert: Die verhaltenssteuernde Wirkung von Informationen verfällt im Zeitablauf, unabhängig von ihrer tatsächlichen Bedeutung, zugunsten weniger bedeutender, aber jüngerer Ereignisse.
5. Mentale Nichtübereinstimmung
Eine einmal getroffene Einschätzung in Bezug auf den »richtigen« Kurs eines Wertpapiers wird unangemessen gering an neue Informationen angepasst, wenn diese Informationen gegen die Richtigkeit dieser Einschätzung sprechen.
6. Magisches Denken
Anleger rechnen sich die Ursachen eines Anlageerfolges oder -misserfolges persönlich zu, auch wenn andere Umstände ganz oder überwiegend dafür verantwortlich waren. So ist z.B. wissenschaftlich gesichert, dass 80% bis 95% des Anlageergebnisses eines Portfolios auf die in ihm enthaltenen Asset- Klassen zurückgeht und nicht auf die Auswahl einzelner Wertpapiere innerhalb der Asset-Klassen. Dennoch schreiben sich Anleger ihr Anlageergebnis in einer bestimmen Zeitspanne vollständig zu, selbst wenn sich die Asset-Klasse nie geändert hat oder eine andere Person die Asset-Klassen bestimmte.
7. Denken in unangemessen isolierten Zusammenhängen
Das »big picture« (große Bild), das zur Beurteilung von Sachverhalten notwendig wäre, wird selbst, wenn der Anleger es kennt, zugunsten einer isolierten Betrachtung einzelner Daten und Argumente vernachlässigt. Die Vorteile von Indexanlagen sind hierfür ein gutes Beispiel. Obwohl ihre Überlegenheit gegenüber aktiv gemanagten Anlageprodukten zweifelsfrei bewiesen ist, stufen die meisten Anleger die Renditeerfolge einzelner Investoren oder die Aussagen einzelner »Experten« höher ein als die gesammelten Forschungsergebnisse der Finanzwissenschaft über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren.
Neben den hier genannten psychologischen Ungleichgewichten bzw. Irrationalitäten hat die Behavioral Finance noch viele weitere entdeckt. Schon wurden mehrere Investmentfonds aufgelegt, die versuchen, durch Ausnutzung dieser Forschungsergebnisse den Markt zu outperformen (die Ergebnisse waren bislang gemischt, zuverlässige Schlussfolgerungen dürften erst in einigen Jahren möglich sein).
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