Barrierefreiheit im E-Commerce: Wo jetzt dringender Handlungsbedarf besteht
Neues Gesetz

Barrierefreiheit im E-Commerce: Wo jetzt dringender Handlungsbedarf besteht

Porträtfoto von Marcel Anger, Manager Frontend Engineering bei diva-e
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Die Uhr tickt für Betreiber von B2C-Onlineshops: Ab Juni 2025 müssen digitale Plattformen gemäß dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) barrierefrei gestaltet sein. Wer nicht rechtzeitig handelt, riskiert empfindliche Bußgelder von bis zu 100.000 Euro, Umsatzverluste oder sogar die Abschaltung des Shops. Es braucht daher rasche und effektive Maßnahmen, um nicht nur gesetzeskonform zu werden, sondern auch langfristig von einem barrierefreien Angebot zu profitieren.

Den Anforderungen hinken aktuell jedoch rund 90 Prozent der Webseiten hinterher – laut einer Studie. Das BFSG ist keine bloße Verpflichtung, sondern auch eine strategische Chance: Durch barrierefreie digitale Angebote lassen sich neue Zielgruppen erschließen und die Kundenzufriedenheit erhöhen. Ein gut durchdachter Plan hilft Unternehmen, die Herausforderung in kontrollierbare Schritte zu zerlegen und ihre Ressourcen gezielt einzusetzen.

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz – und seine Ausnahmen

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) basiert auf der EU-Richtlinie 2019/882, dem European Accessibility Act (EAA), und verfolgt das Ziel, digitale Angebote für Menschen mit Behinderungen zugänglich zu machen. Verantwortliche von B2C-Onlineshops sind in Deutschland ab dem 29.06.2025 verpflichtet, ihre Websites so zu betreiben, dass sie für alle Nutzer problemlos bedienbar sind – unabhängig von deren individuellen Einschränkungen.

Die wichtigsten Ausnahmen:

  • Kleinstunternehmen, die weniger als zehn Mitarbeitende beschäftigen oder weniger als zwei Millionen Euro Jahresumsatz erzielen
  • private Angebote, welche nicht einer gewerblichen Tätigkeit nachgehen
  • Angebote, für die die Umsetzung des BFSG eine unverhältnismäßige Belastung darstellen würde

Ausgeschlossen von der Anwendung sind auch:

  • Videos und Dokumente, die vor dem 29.06.2025 veröffentlicht wurden
  • Kartenmaterial und Archive, die nach dem 28.06.2025 weder aktualisiert noch überarbeitet wurden
  • Inhalte von Dritten, die nicht der eigenen Kontrolle unterliegen

Barrierefreiheit verstehen: WCAG als Grundlage

Im Zentrum der Barrierefreiheit stehen die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG). Diese Richtlinien gliedern sich in drei Konformitätsstufen (A, AA und AAA) und folgen vier grundlegenden Prinzipien:

  • Wahrnehmbarkeit: Inhalte müssen so gestaltet sein, dass sie von allen Nutzern
    wahrgenommen werden können.
  • Bedienbarkeit: Alle Funktionen der Website müssen zugänglich und einfach nutzbar sein.
  •  Verständlichkeit: Informationen und Bedienungselemente müssen verständlich sein.
  • Robustheit: Inhalte sollen auch mit assistiven Technologien zuverlässig funktionieren.

Diese Prinzipien zielen darauf ab, ein umfassendes Nutzungserlebnis zu gewährleisten – für alle. Es geht nicht nur um Maßnahmen wie Alternativtexte oder Kontrastverbesserungen, sondern auch um die vollständige Tastaturnavigation, konsistente Bedienkonzepte (auch mittels Screenreader) und semantisch korrekten HTML-Code.

Der erste Schritt: Analyse und Planung

Ein erfolgreicher Weg zur Barrierefreiheit beginnt mit einer Bestandsaufnahme. Hier empfiehlt sich ein Accessibility-Audit, das mithilfe automatischer und manueller Prüfungen Schwachstellen identifiziert. Tools wie das WAVE Web Accessibility Evaluation Tool oder Google Lighthouse bieten erste Einblicke und heben potenzielle Probleme hervor.

Eine weitere wichtige Sofortmaßnahme ist die Implementierung einer Barrierefreiheitserklärung. Diese informiert Nutzer über den Stand der Barrierefreiheit, nennt Ansprechpersonen und bietet einen Feedbackmechanismus, über den man Barrieren melden kann.

Sofortmaßnahmen: Quick Wins für mehr Barrierefreiheit

Gerade in der Übergangsphase sollten Unternehmen auf Maßnahmen setzen, die mit geringem Aufwand große Wirkung erzielen. Hier sind vier zentrale Handlungsfelder:

  1. Tastaturnavigation sicherstellen: Alle interaktiven Elemente müssen vollständig und in nachvollziehbarer Reihenfolge per Tastatur bedienbar sein. Dies schließt Menüs, Formulare und Buttons ein.
  2.  Alternativtexte einfügen: Bilder und Videos sollten mit präzisen und beschreibenden Alternativtexten versehen sein, um Screenreader-Nutzern die Inhalte zugänglich zu machen.
  3.  Farbkontraste optimieren: Ein hoher Kontrast zwischen Text und Hintergrund verbessert die Lesbarkeit erheblich. Tools wie der Color Contrast Checker unterstützen bei der Überprüfung.
  4.  Multimediale Inhalte barrierefrei gestalten: Videos sollten Untertitel und Audiodateien Transkriptionen enthalten.

Zusätzlich können Unternehmen mit browserbasierten Assistenztechnologien wie Screenreadern, Vergrößerungstoolsund anderen hilfreichen Barrierefreiheitserweiterungen die Nutzerfreundlichkeit testen und optimieren.

Strategische Integration im Unternehmen

Barrierefreiheit ist kein Projekt, das man einmal abschließt – man muss sie langfristig in die Unternehmensprozesse integrieren. Das bedeutet:

  • Verantwortlichkeiten festlegen: Wer kümmert sich um die regelmäßige Prüfung und Weiterentwicklung?
  • Schulungen anbieten: Mitarbeitende aus Entwicklung, Design und Content-Management sollten in den Grundlagen der Barrierefreiheit geschult werden.
  • Prozesse etablieren: Die Barrierefreiheit sollte Teil des Qualitätsmanagements sein, mit regelmäßigen Tests und Audits.

Nach den ersten Quick Wins geht es an die komplexeren Aufgaben: Eine umfassende Neustrukturierung der Website, die Implementierung semantischer HTML5-Elemente oder die Integration von Assistenztechnologien wie Text-to-Speech-Features. Solche Maßnahmen erfordern mehr Zeit und Ressourcen, sind aber entscheidend, um die höheren Konformitätsstufen (AA oder AAA) zu erreichen.

Grafik: diva-e

Die Einhaltung der Barrierefreiheit sollte regelmäßig überprüft werden. Dabei helfen nicht nur wiederkehrende Tests, sondern auch ein offener Feedbackkanal für Nutzer. Ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess garantiert, dass auch nach Software-Updates oder Änderungen im Design die Barrierefreiheit gewahrt bleibt.

Barrierefreiheit als Wettbewerbsvorteil

Während die Umsetzung des BFSG auf den ersten Blick wie eine Last wirken mag, bietet sie Unternehmen langfristig erhebliche Vorteile. Eine barrierefreie Website verbessert nicht nur die Nutzererfahrung, sondern kann auch die Conversion-Rate steigern, da sie zugänglicher und benutzerfreundlicher ist. Studien zeigen, dass Menschen mit Behinderungen eine treue und wachsende Zielgruppe darstellen, die oft unterschätzt wird. Darüber hinaus stärkt ein barrierefreier Onlineshop die Markenreputation. Unternehmen, die auf Inklusion setzen, positionieren sich als sozial verantwortungsbewusst – ein zunehmend wichtiger Faktor für Konsument.

Das BFSG markiert eine Zeitenwende im digitalen Handel. Betriebe, die frühzeitig handeln, sichern nicht nur ihre Zukunftsfähigkeit, sondern profitieren auch von einer gesteigerten Kundenzufriedenheit und neuen Marktpotenzialen. Mit einer klaren Strategie, gezielten Maßnahmen und professioneller Unterstützung kann die Herausforderung bewältigt und sogar als Wettbewerbsvorteil genutzt werden. Der Schlüssel liegt in der kontinuierlichen Verbesserung – damit Barrierefreiheit ein Gewinn für alle Seiten wird.

Checkliste Accessibility: Die wichtigsten Fragen

  1. Entspricht die Website den aktuellen WCAG 2.2-Richtlinien?
  2.  Können alle Inhalte auch ohne Maus bedient werden?
  3.  Sind Alternativtexte für Bilder und Videos vorhanden?
  4.  Kann man Farbkontraste und Schriftgrößen flexibel anpassen?
  5.  Sind alle Formulare nutzerfreundlich und Überschriften klar strukturiert?
  6.  Erfüllen die Unternehmens-CI und Styleguides die nötigen Anforderungen?
  7.  Sind Videos und Audiodateien mit Untertiteln versehen?
  8.  Welches sind die wichtigsten Module / Bereiche / Seiten, die Besuchende hauptsächlich bedienen? Erfolgt eine entsprechend priorisierte Umsetzung?
  9. Wurde ein Accessibility-Audit durchgeführt?
  10.  Sind die Mitarbeitenden ausreichend geschult?
  11.  Hat man alle Rollen, Zuständigkeiten sowie ein Zeitplan zur Umsetzung festgelegt?
  12.  Sind durchgeführte Verbesserungen nachvollziehbar und öffentlich einsehbar?
  13.  Wurde ein Feedbackmechanismus für Barrieren auf der Website zugänglich veröffentlicht?
  14.  Gibt es einen langfristigen Wartungsplan, welcher auch neue Features in Betracht zieht?

Bildnachweis: Depositphotos.com/LukaFunduk

Über den Autor

Porträtfoto von Marcel Anger, Manager Frontend Engineering bei diva-e

Marcel Anger Marcel Anger ist Manager Frontend Engineering bei diva-e. Er verfügt über mehr als 15 Jahre Erfahrung in der Konzeption und Entwicklung von Webportalen. Seit Abschluss seines Wirtschafts- und Management Masters ist er als Manager des Frontend Engineering-Bereichs bei diva-e mitverantwortlich für die Weiterentwicklung der Frontend-Abteilung und Ansprechpartner für alle Fragen rund um die Themen digitale Barrierefreiheit und Accessibility Audits. www.diva-e.com/de/
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