Jeder zweite Freelancer erwägt Auswanderung
Politik in der Pflicht

Jeder zweite Freelancer erwägt Auswanderung

Am

Jeder zweite Freiberufler denkt an Auswanderung, jeder vierter hat es bereits getan oder steht kurz davor: Immer mehr Solo-Selbstständige kehren Deutschland den Rücken zu. Sie sehen sich von der Politik ausgebremst, durch zu viel Bürokratie und bestimmte, fehlende Rechtssicherheit. Ein Weckruf an die Parteienlandschaft, der noch nicht überall verstanden wird.

Zusammenfassung

  • 10 Prozent der Freelancer sind bereits ausgewandert
  •  14 Prozent planen ihre Auswanderung in Kürze
  • Hohe Steuern, Bürokratie und Scheinselbstständigkeit sind die häufigstenGründe
  • Politisch schwer Mehrheit für  Reformen zu bekommen

Von über 500 von freelancermap befragten Freiberufler ziehen nur  22 Prozent eine Auswanderung nicht in Betracht. Über die Hälfte (54 Prozent) geben an, dies zumindest zu erwägen – und 14 Prozent stecken gerade in konkreten Vorbereitungen, Deutschland zu verlassen.  Gründe gibt es viele. Laut dem aktuellen Freelancer-Kompass, der größten Umfrage unter Freelancern, Freiberuflern und Selbstständigen im deutschsprachigen Raum haben sie den Wunsch an den vom Staat vor allem die Bürokratie (69 Prozent) zu reduzieren und den Rechtsstatus der Scheinselbstständigkeit (61 Prozent) abzuschaffen. „Es wird immer schwieriger, selbstständig zu sein“, sagt auch Olivia Olivares, freiberufliche Expertin für digitales Marketing. „Man verliert schon den Überblick über die ganzen Regelungen und Gesetze.“

Scheinselbstständigkeit erschwert Akquise

„Besonders die geringe Rechtssicherheit mindert die Bereitschaft vieler Unternehmen, trotz ihres akuten Bedarfs mit Freelancern zusammenzuarbeiten“, erläutert Thomas Maas, CEO der Freelancing-Plattform freelancermap. „Zu groß ist die Angst, nach einer Betriebsprüfung rückwirkend für mehrere Jahre Sozialabgaben nachzahlen zu müssen.“ Auch deshalb, so Andreas Lutz, Vorstandsvorsitzender des Verbandes der Gründer und Selbstständigen Deutschland e. V. (VGSD), habe sich das Auftragsangebot für IT-Freelancer in den letzten Jahren um die Hälfte reduziert: „So werden Aufträge beendet und an Selbstständige im Ausland vergeben.“

Wandert die Nachfrage ab, folgt das Angebot: Jeder vierte Freelancer hat Deutschland bereits verlassen (10 Prozent) oder sitzt auf gepackten Koffern (14 Prozent). Die Ursache ist Frust. Die Befragten beanstanden „Gängelei“ und Überregulierung – und sehen im Ausland vor allen Dingen die positiven Aspekte: Weniger Stress mit den sozialen Sicherungssystemen, weniger Bürokratie, niedrigere Steuern und mehr Lebensqualität. Tatsächlich preist zum Beispiel Portugal sein Non-Habitual-Resident-Steuerregime an für bürokratiemüde digitale Nomaden, die dort für zehn Jahre Steuererleichterungen genießen – und das bei um ein Drittel niedrigeren Lebenshaltungskosten.

Politik ist sich uneinig

„Angesichts des Fachkräftemangels können wir es uns schlicht nicht leisten, auf diese Talente zu verzichten“, warnt etwa Nina Stahr. Sie befand sich bis zur Wiederholung der Wahl in Berlin 2024 für die Grünen im Bundestag. Auch MdB Marc Biadacz von der CDU meint: „Da sind Arbeitsplätze und Menschen, die nicht verlorengehen dürfen.“ Er möchte die Bevölkerung gerne selbst entscheiden lassen, wie sie arbeiten und ihr Geld verdienen möchte – „die Politik muss nur den Rahmen dafür schaffen“. Doch wie der aussehen soll, ist umstritten in den Parteien.

Dieter Falk, Beisitzer im Bundesvorstand der Arbeitsgemeinschaft der Selbstständigen (AGS) in der SPD, arbeitet seit der Jahrtausendwende selbst als Freelancer. Er meint: Freiberufler, die auskömmlich bezahlt werden, benötigen nicht vom Staat den Schutz vor Ausbeutung. Der aktuelle Freelancer-Kompass zeigt, dass der durchschnittliche Stundensatz bei freien Experten aktuell bei 102 Euro liegt, und dass diese über 1.100 Euro pro Monat für ihre Altersvorsorge zurücklegen. Dennoch gäbe es „natürlich Hunderttausende, wenn nicht Millionen“, die als Solo-Selbstständige kaum das Existenzminimum erreichen, hält Falk dagegen. „Wer dann sehr wenig verdient und Sozialleistungen bekommen muss, erhält letztlich jene Leistungen von der Allgemeinheit, die der Unternehmer ihm vorenthalten hat.“

„Politik denkt in Angestelltenverhältnissen“

Für MdB Jens Teutrine von der FDP ist diese Sichtweise ein Musterbeispiel dafür, dass die Politik maximal auf Angestellte ausgerichtet ist: „Die Selbstständigkeit wird als Beschäftigung zweiter Klasse betrachtet – das ist ein grundsätzliches kulturelles Problem.“

Rolf Schmachtenberg arbeitet als Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales unter anderem an der Pflichtversicherung für Selbstständige, welche gemäß Koalitionsvertrag noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden soll. Er verweist auf eine am 1. April 2022 in Kraft getretene Reform des Statusfeststellungsverfahrens, nach der die Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung Bund auf Antrag heute schon vor Beginn der Zusammenarbeit verbindlich bescheiden könne, dass keine Sozialversicherungspflicht vorliege.

Positivkriterien als „Lizenz zum Freelancing“

Andreas Lutz vom VGSD sieht in der Reform allerdings keinen Fortschritt: „Sie hat zu mehr Rechtsunsicherheit, längeren und bürokratischeren Verfahren geführt.“ Wie Jens Teutrine von der FDP bemängelt er, dass die Beurteilung weiterhin von Negativkriterien bestimmt werde. Beide wünschen sich eine Regelung, nach der Freelancer gewisse Voraussetzungen hinsichtlich Honorarhöhe und privater Vorsorge haben müssen – dann aber sicher als Selbstständige gelten. „Man könnte ja auch mal darüber nachdenken, ob es nicht noch andere Institutionen gibt, die das vielleicht sinnvoller prüfen könnten, weil sie kein Eigeninteresse daran haben, neue Beitragszahler zu gewinnen“, so Teutrine. „Die Finanzämter beispielsweise.“

In diesem Punkt stimmt ihm sogar der Grüne MdB Erhard Grundl zu: „Eigentlich hätten wir mit der Kleinunternehmerregelung bereits ein gesetzlich festgelegtes Kriterium.“ Er ist sich auch der Schwächen der aktuellen Vorgaben bewusst – Fälle, in denen die geschäftsführenden Inhaber kleinerer Verlage rückwirkend zu hohen Nachzahlungen verpflichtet wurden. Das habe sie zu massiven Existenznöten geführt, gibt Grundl zu.

Dass die Praxis der Überprüfung auf Scheinselbstständigkeit fallen wird, ist für Grundl nicht die Lösung. „Selbständigkeit ist ein wichtiger Bestandteil der Wirtschaftskraft unseres Landes. Es ist dabei wichtig, eine klare Abgrenzung zur Scheinselbständigkeit festzulegen. Weisungsgebundenheit verträgt sich nicht mit der Selbstständigkeit. Wichtig ist, dass sich die Rentenversicherung bei ihrer Überprüfung nachvollziehbarer Kriterien bedient“, so Grundl.

Umdenken ist angesagt

Seine Einschätzung dürfte jene Freelancer bestätigen, die schon heute ihre Abwanderung planen. „Der Kulturwandel in der Arbeitswelt hat die Anpassungsfähigkeit der Politik überholt“, meint auch Thomas Maas von freelancermap. Laut Freelancer-Kompass 2024 arbeiten 57 Prozent der Freiberufler mittlerweile vollständig remote – und sind somit unabhängig von ihrem Einsatzort. Schätzungen zufolge könnte die Zahl der digitalen Nomaden bis 2035 auf eine Milliarde wachsen. Wie viele deutsche Freelancer darunter sein werden, hängt auch von der Politik der nächsten Jahre ab.

Bildnachweis: Depositphotos.com/fxquadro

Kommentare

Kommentar schreiben:

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Erhalten Sie jeden Monat die neusten Business-Trends in ihr Postfach!
X