Sollten Beurteilungssysteme abgeschafft werden?
In vielen Unternehmen werden die Leistungen aller Mitarbeiter regelmäßig bewertet und beurteilt, um danach über ihre künftige Entlohnung und ihr berufliches Fortkommen zu entscheiden. Sind solche Beurteilungssysteme noch zeitgemäß, oder sind sie Relikte aus einer Zeit, in der jeder Mitarbeiter eine klare Stellenbeschreibung hatte?
Sie sind ungeliebt. Trotzdem gibt es sie in den meisten größeren Unternehmen: Beurteilungssysteme. Denn viele Personalverantwortliche sehen ihnen ein wichtiges Tool, um
„High- und Low-Performer“, d.h. Leistungsträger und Minderleister, zu identifizieren,
die Leistung der Mitarbeiter transparent und vergleichbar zu machen, über Gehälter, Zulagen sowie Beförderungen zu entscheiden und die Mitarbeiter zu motivieren. Doch erfüllen Beurteilungssysteme noch die genannten Funktionen, oder sind sie Relikte aus einer Zeit,
- in der die Betriebe noch weitgehend tayloristisch organisiert waren,
- Führung ausschließlich hierarchisch verstanden wurde und
- (fast) jeder Arbeitnehmer eine Stellenbeschreibung hatte, in der seine Aufgaben exakt definiert waren?
Viele Personalexperten äußern Bedenken, inwieweit die traditionellen Beurteilungssysteme noch den Arbeitsinhalten und -beziehungen in modern geführten und strukturierten Unternehmen sowie den Erwartungen autonomer Mitarbeiter gerecht werden. Und manche befürchten sogar: In einer Zeit, in der die Team- und Projektarbeit weitgehend die Zusammenarbeit in den Betrieben prägt und sich die Herausforderungen an die Unternehmen und ihre Mitarbeiter schnell wandeln, mindern Beurteilungssysteme eher die Motivation der Mitarbeiter und somit auch deren Leistung.
Warum Unternehmen an ihren Beurteilungssystemen festhalten
Warum halten trotzdem so viele Unternehmen an ihren Beurteilungssystemen fest, obwohl mit ihnen auch ein hoher administrativer Aufwand verbunden ist? Eine zentrale Ursache ist: In der „freien“ Wirtschaft erfolgt die Bezahlung der Mitarbeiter individuell – selbst wenn die Leistung weitgehend im Team erbracht wird. Zugleich soll die individuell ausgehandelte Vergütung jedoch gerecht sein. Daher muss, so das Credo, die Leistung individuell gemessen werden, damit sie bewertbar und vergleichbar wird. Diese auf dem Leistungsprinzip basierende Logik haben auch die Mitarbeiter verinnerlicht. Deshalb akzeptieren sie die Beurteilungssysteme als notwendiges Übel.
Dass das Verfahren akzeptiert wird, bedeutet aber nicht automatisch, dass es auch die Ziele des Unternehmens unterstützt. So ist zum Beispiel eine Schattenseite der Leistungsmessung: Die ihr zugrunde liegenden Mitarbeitergespräche fokussieren sich nicht darauf, wie die Leistung des Mitarbeiters gesichert oder gar gesteigert werden kann. Das heißt, in den Gesprächen stehen nicht Fragen zentral wie:
- Was erfordert die aktuelle oder künftige Arbeitssituation?
- Welche Ziele gilt es künftig zu erreichen?
- Was bedeutet dies für das Verhalten/Tun des Mitarbeiters?
- Welche Unterstützung/Förderung benötigt er, um künftig seinen Beitrag zum Erreichen der Bereichs-/Unternehmensziele zu leisten?
Das Gespräch konzentriert sich vielmehr auf die Leistung des Mitarbeiters in der Vergangenheit. Und was für den Mitarbeiter primär zählt, ist die „Note“ für seine erbrachte Leistung. Denn sie entscheidet unter anderem darüber, ob er eine Gehaltserhöhung oder Prämie erhält. Alle anderen Fragen, die in dem Gespräch eventuell auch erörtert werden, sind für ihn von untergeordnetem Belang. Wäre es deshalb nicht sinnvoll, auf solche Beurteilungen zu verzichten, damit in den Mitarbeitergesprächen wieder die Herausforderungen, vor denen das Unternehmen steht, im Vordergrund stehen?
Individuelle Leistung ist schwieriger messbar
Das fragt sich eine wachsende Zahl von Unternehmen auch aus folgendem Grund: Die den Beurteilungssystemen zugrunde liegende individuelle Leistungsmessung und -bewertung wird der Arbeitssituation in modern geführten und strukturierten Unternehmen, die zunehmend vernetzte Systeme sind, immer weniger gerecht. Denn in ihnen werden die Leistungen, zumindest in den Kernbereichen, weitgehend in Teams erbracht. Und die Leistung des einzelnen Mitarbeiters? Sie hängt immer stärker von der Zuarbeit sowie Qualität der Leistung von Kollegen oft auch aus anderen Unternehmensbereichen ab. Deshalb ist es zunehmend schwierig zu quantifizieren, welchen Beitrag die einzelnen Mitarbeiter zum Erreichen der Bereichs- und Unternehmensziele leisten – selbst wenn sie anscheinend identische Aufgaben haben. Denn meist sind die Rahmenbedingungen, unter denen sie diese wahrnehmen, verschieden.
Das heißt: Die Unternehmen agieren bei ihren Beurteilungssystemen oft mit einem sehr vagen Begriff von Leistung. Und dieser wird als die Basis für aus Mitarbeitersicht so weitreichende personalwirtschaftliche Entscheidungen wie Gehaltserhöhungen, Prämien, Beförderungen, Versetzungen und im Extremfall sogar Kündigungen herangezogen. Deshalb werden die Beurteilungen immer häufiger als ungerecht empfunden. Denn die Mitarbeiter haben das Gefühl: Meine Person und der Beitrag, den ich zum Erreichen der Bereichs-/Unternehmensziele leiste, werden nicht adäquat wahrgenommen und geschätzt.
Zahl der Beurteilungsfehler steigt
Diesen Eindruck haben die Mitarbeiter zum Teil zu Recht. Denn, wenn die Leistung den Mitarbeitern nicht mehr 1 zu 1 zuordenbar ist und die Führungskräfte zudem ihre Mitarbeiter eventuell sogar aus der Ferne führen, erhöht sich automatisch die Zahl der Beurteilungsfehler. Daher ist auch häufiger zum Beispiel die auf Basis der Beurteilungen erfolgte Verteilung der verfügbaren Belohnungen ungerecht. Das ist vielen Führungskräften bewusst. Deshalb sehen sie in der Beurteilung zunehmend eine lästige Pflicht und „machen“ diese für die Personalabteilung – jedoch nicht für ihre Mitarbeiter.
Ein weiteres Manko ist: Schwache Führungskräfte neigen dazu, sich mit ihren Personalentscheidungen hinter dem Beurteilungssystem zu verstecken. Das heißt: Sie entschuldigen ihre Entscheidung, Mitarbeitern zum Beispiel Prämien, Beförderungen oder Entwicklungsmaßnahmen zu verwehren, mit dem Beurteilungssystem statt den schwierigen, aber produktiven offenen Dialog mit ihren Mitarbeitern über eventuelle Leistungsdefizite oder Limitierungen ihres Entwicklungspotenzials zu führen.
Auf den Dialog statt auf Beurteilungen bauen
Deshalb sollten sich die Unternehmen kritisch fragen:
- Welche Ziele verfolgen wir heute noch mit unserem Beurteilungssystem?
- Werden diese Ziele erreicht?
- Wenn ja: Welchen „Preis“ bezahlen wir dafür und ist dieser noch gerechtfertigt?
Manches Unternehmen dürfte dann zur Erkenntnis gelangen: Der Aufwand ist zu hoch, und die negativen Nebenwirkungen sind höher als der Nutzen. Denn in der modernen Arbeitswelt ist es eine zentrale Aufgabe von Führung, die Mitarbeiter in ihrer Entwicklung zu fördern und sie bei Bedarf beim Erfüllen ihrer Aufgaben zu unterstützen. Das setzt voraus, dass die Führungskräfte in einem Dialog mit ihren Mitarbeitern stehen – und zwar kurzfristig-operativ und mittelfristig-entwickelnd. Und dieser Dialog sollte von wechselseitigem Vertrauen und gegenseitiger Wertschätzung geprägt sein. Deshalb sollten die Gespräche Führungskraft-Mitarbeiter, soweit möglich, vom Element „rückwärtige Bewertung und Beurteilung“ befreit sein. Und die Dokumentation der Gespräche? Sie sollte für die Gesprächspartner in erster Linie eine Hilfe zur Erinnerung und ein Zeichen der Verbindlichkeit sein. Die Dokumentation für Dritte wie die Personal- und Unternehmensleitung hingegen, sollte sich auf ein Mindestmaß beschränken.
Martin Rugart und Klaus Kissel; www.ifsm-online.com
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