Sind Führungskräfte wirklich für Führungsdefizite verantwortlich?
Deutsche Führungskräfte haben Führungsdefizite und deshalb sinken Motivation und Produktivität – so die Ergebnisse zweier Befragungen. Dabei liegt es nicht an den Führungskräften, sondern an ihrer Ausbildung und den Konzepten und Methoden, mit denen sie führen sollen. Das zu ändern wird gerade in der Nach-Corona-Zeit erfolgsrelevant.
Umfragen zur Qualität der Führungsdefizite
Nach einer Umfrage des Unternehmens Peakon geht knapp jeder Vierte (23 Prozent) in Deutschland unmotiviert zur Arbeit.
Damit sind deutsche Angestellte in einem internationalen Vergleich Schlusslicht bei der Arbeitsmotivation. „Unmotivierte Angestellte wirken sich nach Angaben von Peakon auch auf die Wirtschaftlichkeit von Unternehmen aus. Denn wenn Arbeitnehmer nicht das Gefühl hätten, zum Unternehmen zu gehören, halbiere sich die Arbeitsleistung. Bei einer unmotivierten Belegschaft verdoppele sich zudem das Risiko für Kündigungen und die Anzahl der Krankheitstage liege im Schnitt um 75 Prozent höher.“
Eine „repräsentative“ Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa und des Beratungsunternehmens Porsche kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Demnach „geht nur etwa jeder zweite Angestellte in Deutschland jeden Tag gern zur Arbeit. Und jeder dritte Arbeitnehmer hat im Laufe des vergangenen Jahres schon einmal über eine Kündigung nachgedacht.“ Kündigungsgrund sei der Chef, der Fehler mache. Dabei sollen jedoch Führungskräfte in der Zwickmühle stecken. Sie „sind hin- und hergerissen zwischen einem modernen und einem traditionellen Führungsstil.“ Genau hier liegen die wirklichen Gründe für Führungsdefizite.
Auf ungeeigneten Theorien wächst keine erfolgreiche Praxis
Als Führungskraft wird man nicht geboren, sondern man entwickelt sich in eine Führungsfunktion hinein, meistens über gute Leistungen in einer Fachfunktion. Wie man erfolgreich führt, das muss gelernt werden.
Klassische Führungstrainings bauen auf Ergebnissen der Führungsforschung aus dem letzten Jahrhundert auf, insbesondere den Ohio/Michigan-Studien von 1949. Im Mittelpunkt stand das Verhalten einer Führungskraft gegenüber Mitarbeitern. Zwei grundsätzliche „Führungsstile“ brachten gute Führungsergebnisse, der mitarbeiterorientierte und der aufgabenorientierte Führungsstil. Von da ab wurde zwischen Leadership und Management unterschieden.
In den meisten Führungstrainings in Deutschland wird heute ausschließlich Leadership trainiert. Im Mittelpunkt von Leadership stehen Kommunikation, Feedback, Lob, Umgang mit Konflikten – das heißt das direkte Führungsverhalten einer Führungskraft. Deshalb lauten zwei Handlungsvorschläge aus der Forsa/Porsche Studie: „Ein zentraler Hebel für Führungskräfte ist das Lob.“ „Loben und das Teilen von Informationen hilft dabei, Mitarbeiter im Unternehmen zu halten“. Das ist natürlich richtig, aber völlig unzureichend.
Management ist kein Inhalt von Führungstraining
Der grundlegende Vorschlag aus der Studie lautet: „Entscheidend jedoch ist die Frage, ob der Chef Freiräume geben oder lieber Aufgaben verteilen und kontrollieren will. Die Kunst besteht darin, beides miteinander zu vereinen. So wünschen sich laut der Umfrage 37 Prozent klare Regeln für ihre Arbeit, 32 Prozent wollen aber auch mehr Mitsprache und mehr Freiraum.“
Es geht nicht mehr um Kommunikation, sondern um die Organisation von Arbeit und Zusammenarbeit. Wer diese „Kunst“ beherrschen will, der muss Managementkompetenzen haben. Management wird aber klassisch nicht trainiert. Management wird sogar von selbsternannten Führungsgurus desavouiert, was Aussagen zeigen wie „Man kann Menschen nicht durch einen dunklen Wald managen, man kann sie nur durch den Wald führen.“ Hier werden veraltete Vorstellungen von Führung deutlich, denn im letzten Jahrhundert war „Management“ für die Führung auf der mittleren und unteren Führungsebene nicht wichtig: Strukturen, Arbeitsverteilung und Prozesse waren stabil. Mit IT beschäftigten sich Spezialisten am Großrechner. Mitarbeiter wurden in bewährte Aufgabenverteilungen „eingepasst“. Fehlende Fähigkeiten ermittelte ein qualifiziertes Personalwesen und das unterstützte bei wenigen, übergreifenden Veränderungen durch Organisationsentwicklung. Führungskräfte auf unteren Führungsebenen hatten die Facharbeit „von der Pike auf“ gelernt und konnten jede Aufgabe meistens besser als ihre Mitarbeiter bearbeiten. Nichts veränderte sich wesentlich. Eine Abteilung zu managen war kein Problem.
Genau das hat sich im 21. Jahrhundert grundlegend geändert: Der technische Fortschritt und insbesondere die Digitalisierung verändern heute Aufgaben, Arbeitsmethoden, Prozesse und damit auch Anforderungsprofile von Mitarbeitern kontinuierlich, oft sprunghaft. Die Arbeitsverteilung muss öfter reorganisiert und für neue IT-Systeme und -Instrumente passend gemacht werden. Das setzt erfolgreiche Veränderungsprozesse voraus. Zunehmende Internationalisierung verändert Strukturen und konfrontiert mit anderen Kulturen. Staatliche Regulierungen, in vielen Untersuchungen als die wichtigste Ursache für steigende Komplexität von Führung eingeschätzt, erfordern mehr aktuelles Fachwissen. Deshalb ist die Grundlage für Planungen und Arbeitsinhalte ein funktionierendes Wissensmanagement.
Digitalisierung erfordert Management
Im Mittelpunkt erfolgreicher Führungstheorien steht heute nicht Kommunikationsverhalten der Führungskraft, sondern die Führungsfunktion: Führung bedeutet Ziele zusammen mit motivierten Mitarbeitern/dem Team zu erreichen über effektive Wege, das heißt Strategien, Prozesse und Aufgaben. Führungskräfte, die das in den Griff bekommen wollen, brauchen natürlich Kommunikationskompetenzen. Sie müssen aber erfolgreich
- mit Zielen umgehen können
- den Verantwortungsbereich organisieren können
- Personalkapazität richtig einsetzen können
- Stellen dauerhaft gut besetzen können
- mit Schnittstellen zu anderen Bereichen umgehen können
- Veränderungsprozesse gemeinsam mit dem Team planen und realisieren können
Klassische Führungstrainings verstärken Führungsdefizite
Weil dafür Führungskräfte heute nicht trainiert werden, sind Führungstrainings unwirksam. Schlimmer noch – sie sind sogar schädlich: Führungskräfte sollen Ihr grundsätzliches Verhalten gemäß klassischer Führungstheorien mit Führungsstilen regeln. Sie sollen zwischen Führungsstilen wählen, z.B. zwischen autoritär/direktiv oder kooperativ/partizipatorisch. Wenn die Welt unsicherer, komplexer und widersprüchlicher wird, dann wird Vertrauen wichtiger.
Schon 1968 stellte Niklas Luhmann fest, dass Vertrauen hilft mit Unsicherheit besser umzugehen. Es ist nahezu unmöglich einer Führungskraft zu vertrauen, die es sich nach eigener Einschätzung herausnehmen kann, ihr Verhalten z.B. zwischen autoritär und kooperativ zu wechseln. Unberechenbare Führungskräfte verursachen erheblichen Stress bei Mitarbeitern.
Führungskräfte, denen vertraut werden soll, müssen authentisch, berechenbar sein und keine situativen Chamäleons. Wer Führungskräfte trainiert, je nach Situation das Verhalten zu verändern, gibt ihnen ein Freibrief für Führung nach Gutsherrenart. Wer führen will, benötigt Autorität und die wird heute insbesondere auf unteren Führungsebenen nicht mehr durch Positionsmacht erworben, mit der jedes Verhalten gerechtfertigt wird. Grundlage von Führung ist respektvolles Verhalten, um das Selbstwertgefühl des Mitarbeiters und der Führungskraft aufrecht zu erhalten. Das ist keine wählbare Verhaltensalternative. Auch hier spielt die Digitalisierung eine entscheidende Rolle: Alle programmierbaren Aufgaben übernehmen Computer und Roboter. Übrig bleiben anspruchsvolle Aufgaben, die gut ausgebildete Mitarbeiter – Experten – übernehmen. Diese qualifizierten Mitarbeiter akzeptieren den direktiven, autoritären Führungsstil nicht mehr. Sie verlassen das Unternehmen oder kündigen innerlich und ziehen sich in eine freizeitorientierte Schonhaltung zurück, was sich durch fehlende Motivation ausdrückt.
Heute folgen Mitarbeiter Führungskräften, die ihre Funktion ausfüllen, nämlich Unternehmensinteressen und Mitarbeiterinteressen zu synchronisieren und Ergebniswelten schaffen. Leadership und Management sind die beiden Seiten einer Medaille.
Führungsdefizite sind ein Thema für den HR-Bereich und die Leitung
Führungsdefizite entstehen deshalb einerseits, weil der HR-Bereich Trainings durchführt oder durchführen lässt, die den Führungskräften keine oder ungeeignete Antworten auf die heutigen Herausforderungen geben.
Andererseits schaffen Unternehmensleitungen nicht die stabilen Rahmenbedingungen für Führung, in denen Führungskräfte effektiv führen können. Nun kommt die Forsa/Porsche Studie zum Ergebnis, dass „der Umfrage zufolge in rund 20 Prozent der Unternehmen die Welt noch in Ordnung ist. Dort wird in die Ausbildung der Führungskräfte investiert, etwa in der Softwareindustrie oder im Tech-Bereich.“
In diesen Branchen ist es nicht so, dass die Welt noch in Ordnung ist. Unternehmen im High Tech Bereich mussten sich schon seit über 30 Jahren mit Veränderungen auseinandersetzen, die heute nahezu jedes Unternehmen treffen. Das ist am Beispiel der eigenen Erfahrungen in einem High Tech Unternehmen belegt und vertieft worden.
Wir mussten im HR-Bereich lernen, dass Führung, die sowohl die Motivation als auch die Produktivität steigert, von mehr abhängt, als vom Verhalten der Führungskräfte. Grundlage war Systemtheorie. Vier Einflussfaktoren beeinflussen den Erfolg von Führung wesentlich:
1. Führungssysteme
In jedem Unternehmen sind 5 Systeme notwendig, um die Rahmenbedingungen von Führung überall im Unternehmen zu gestalten. Es sind Systeme zum Zielmanagement, zum Talentmanagement, zu Entgelt/Leistungen, zur Arbeitszeit und zur Personal-, Bereichsorganisation. Führungssysteme bestehen immer aus den Elementen (1) Gesamtkonzept/ Regeln, (2) Maßnahmen/Prozesse und (3) Instrumente/Methoden. Die Systeme möglichst einfach zu gestalten ist das Schwierigste. Natürlich unterscheiden sich Systeme in Abhängigkeit von der Unternehmensgröße. Fehlt aber ein Element, wird das System nicht funktionieren. Ohne die Verbindlichkeit durch die Leitung bleibt alles Papier.
2. Managementinstrumente
Alte Managementinstrumente wurden abgeschafft. So sind Zielvereinbarungsgespräche nicht geeignet, die richtigen Ziele zu finden. In Zielklausuren werden gemeinsam die „Bigpoints“ aus der Unternehmensplanung und der Bedarf an Veränderungsprozessen abgeleitet. Führungskräfte erhielten dezentral einsetzbare Instrumente, um ihren Verantwortungsbereich zu organisieren und Veränderungsprozesse zu gestalten, denn Stellenbeschreibungen haben schon im letzten Jahrhundert Veränderungen behindert. Wer glaubt, Delegation funktioniert über die Verteilung von Aufgaben, der wird weiterhin Misserfolge erleben. Wer erfolgreich delegieren will, sollte Ergebnisverantwortung übertragen, um dann Freiräume bei der Aufgabenbearbeitung zu geben.
3. Ergebnisorientierung
Die wohl wichtigste Erfahrung mit Führungskräften im mittleren Management besteht darin, dass sie nicht in Zielen und Ergebnissen denken und der Unterschied zu Aufgaben unklar ist. In über 350 Zielklausuren mit mehr als 4000 Teilnehmern formulierten Führungskräfte nach Erläuterungen zur Zielformulierung trotzdem in über 80% ihre Ziele als Aufgaben. Teilnehmer aus USA, England, Frankreich oder den Niederlanden hatten nicht diese Schwierigkeiten. Nur wer in Ergebnissen denkt, kann strategisch handeln, kann delegieren, schafft die Voraussetzungen für effektives Arbeiten im Homeoffice, kann Projektmanagement erfolgreich einsetzen und Veränderungsprozesse erfolgreich gestalten.
4. Führungstrainings
In der Forsa/Porsche Studie heißt es: „Nach unserer Erkenntnis nutzen Chefs nur 20 Prozent ihrer Zeit für Führungsarbeit und beschäftigen sich mit ihren Mitarbeitern“. Dem kann nicht gefolgt werden. Seit über 30 Jahren ist die folgende Selbstreflexion ein Element in Führungstrainings:
Die Seminarergebnisse haben schon damals die Führungskräfte erstaunt, denn 20% ergaben sich für die Aufgaben 4 bis 6 nie. Im Mittelpunkt stand Trouble Shooting, sehr oft ausgelöst, wenn wichtige Herausforderungen dringend wurden, das heißt nicht „strategisch“ gearbeitet wurde. Auf dieser Reflexion kann aufgebaut werden, denn nur wer betroffen ist, der verändert sich. Als Ergebnis wird Führungshandeln strukturiert, es werden Messgrößen für Ergebnisse entwickelt um daraus erfolgversprechende Aktivitäten abzuleiten.
Insbesondere die Aktivität 7 (Mitarbeit in bereichsübergreifenden Projekten) nahm über die Jahre einen immer größeren Zeitanteil ein und ist heute von entscheidender Bedeutung. In diesen Projekten geht es auch darum, die notwendigen Veränderungsprozesse für Prozess- und Produkt-Innovationen möglichst schnell und erfolgreich umzusetzen. Gerade Produktinnovationen entstehen, wenn Marktentwicklungen aus dem Vertrieb oder Technologieentwicklungen aus den Fachbereichen gemeinsam überprüft, entschieden und geplant werden. Innovationen betreffen immer das gesamte Unternehmen. Insgesamt gesehen konnten nachweislich erhebliche EBIT-Verbesserungen erreicht werden und die Qualität von Führung und Zusammenarbeit wurde von Mitarbeitern höher eingeschätzt.
Ausblick
Führungsdefizite entstehen, weil insbesondere der HR-Bereich mit veralteten Theorien und Methoden arbeitet und zusammen mit der Unternehmensleitung keine geeigneten Rahmenbedingungen für Führung im Unternehmen schafft, obwohl genügend langjährige Erfahrungen existieren.
Gerade in der Nach-Corona-Zeit könnten viele Führungskräfte glauben, dass nun jeder Mitarbeiter froh ist, wieder oder noch beschäftigt zu sein und deshalb Motivation kein Problem ist. Das könnte zu alten Führungsstilen, insbesondere dem autoritär/direktiven Stil ermuntern. Es wird aber darauf ankommen, die Produktivität zu steigern. Das geht nicht mit alten Stilen. Digitalisierung wird weitergehen und zu entscheidenden Produktivitätsvorteilen führen. Ein Vorschlag der Forsa / Porsche Studie macht wenig Hoffnung, dass sich erfolgversprechende Führungskonzepte durchsetzen. Darin finden sich alte Führungsstile und ungeeignete Methoden wieder: „Wichtige Entscheidungen sollten zudem am Morgen getroffen und auch bekannt gegeben werden. In der Zeit ist bei allen Beteiligten die Aufnahmefähigkeit besonders ausgeprägt“.
Foto/Thumbnail: ©grechka333/Depositphotos.com
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